Nachhaltige Altersvorsorge
08. November 2022 | Seit 2.8.2022 müssen im Rahmen der Geeignetheitsprüfung beim Vertrieb von Versicherungsanlageprodukten Fragen zu den Nachhaltigkeitspräferenzen der Kund*innen gestellt und bei der Produktauswahl berücksichtigt werden. Erste Erfahrungen aus dem Maklermarkt zeigen, dass deutlich mehr als jede*r zweite Kund*in Interesse an Nachhaltigkeit zeigt. Nachhaltigkeit ist also ein bedeutender Faktor in der Kundenberatung und ein zusätzliches Argument für den Abschluss von Lebensversicherungen. Vermittler*innen sollten daher ihren Beratungsprozess konsequent erweitern und Chancen aus dem Vertrieb nachhaltiger Versicherungen nutzen.
Der Verkaufsprozess bei nachhaltigen Lebensversicherungen
Die Geeignetheitsprüfung stammt aus den Vorschriften zur Anlageberatung nach der Richtlinie MiFID II und wurde 2018 mit der Versicherungsvertriebsrichtlinie IDD auch für den Vertrieb von Versicherungsanlageprodukten eingeführt. Ihr Zweck ist sicherzustellen, dass (Versicherungs-) Anleger nur für sie geeignete Anlagen empfohlen bekommen, die zudem für sie angemessen erscheinen (Angemessenheitsprüfung). Im Ergebnis sollen Falschberatungen und deren Konsequenzen wie Kundenunzufriedenheit oder sogar Schadenersatzansprüche vermieden werden.
Als Versicherungsanlageprodukte im engeren Sinn nach der Richtlinie IDD gelten nur ungeförderte Kapitallebens- und Rentenversicherungen („Schicht 3“). Allerdings sollten Vermittler*innen die Geeignetheitsprüfung freiwillig bei allen kapitalbildenden Lebens- und Rentenversicherungen anwenden. Das hat zum einen praktische Gründe, damit ein Beratungsprozess zur Lebensversicherung nicht sehr umständlich unterbrochen und neu gestartet werden muss, wenn erst im Verlauf der Beratung ungeförderte Produkte in den Fokus gelangen. Zum anderen ist es mindestens für die Kund*innen schwer verständlich, warum beispielsweise ein und dieselbe fondsgebundene Lebens-/Rentenversicherung mal ohne Geeignetheitsprüfung und mal mit vertrieben wird, nur weil sie mal staatlich gefördert wird (Riester, Rürup, betriebliche Altersvorsorge) und mal nicht.
Der Verkaufsprozess von Vermittler*innen wird im deutschen Versicherungsvertragsgesetz an mehreren Stellen geregelt: Allgemein im § 61 VVG, speziell die Geeignetheitsprüfung in § 7c VVG.
Zu Beginn des Verkaufsprozesses (unter Umständen nach einer statusbezogenen Erstinformation an Neukund*innen, siehe § 15 VersVermV) steht die Klärung des Beratungsanlasses. Ziel ist herauszufinden und zu dokumentieren, wer die Gesprächsinitiative (Kund*in oder Vermittler*in) aus welchem Grund ergriffen hat – beispielsweise fragen Kund*innen nach einer Altersvorsorgeberatung oder spricht der*die Vermittler*in Kund*innen auf ihre Rentensituation an.
Anschließend ist eine Befragung nach Wünschen und Bedürfnissen der Kund*innen vorgesehen. Die Kund*innen sollen die Möglichkeit bekommen auszudrücken, was sie subjektiv wollen, und objektive Hinweise auf ihren Versicherungsbedarf liefern. Im Bereich der Altersvorsorge können das Wünsche nach einem bestimmten Lebensstandard im Alter sowie die Versorgungslücke aus Wunscheinkommen und bestehenden Versorgungen im Alter als Bedürfnis sein.
Die anschließende Geeignetheitsprüfung sieht Fragen zu den bisherigen Anlageerfahrungen, den Anlagezielen und den finanziellen Verhältnissen der Kund*innen. Ziel ist, ein umfassendes Bild zu erhalten, ob die Kund*innen die jeweils angebotenen Produkte, deren Chancen und Risiken sowie Verfügbarkeit verstehen, und ob sie zu ihrer persönlichen Verlusttragfähigkeit passen.
Abfrage der kundenspezifischen Nachhaltigkeitspräferenzen
Neu ist seit 2.8.2022, anschließend die Frage zu stellen, ob bei der Auswahl von Produkten Nachhaltigkeit berücksichtigt werden soll. Sofern Kund*innen das Konzept Nachhaltigkeit noch nicht (ausreichend) kennen, ist eine Nachhaltigkeits-Erstinformation angebracht. Darin könnte erläutert werden, welche 17 Ziele sich die Vereinten Nationen für eine nachhaltige Entwicklung gesetzt hat und was die Buchstaben „ESG“ (Environment, Social, Governance) bedeuten. Sicherlich ist es wichtig für Kund*innen zu erfahren, dass Versicherungsgesellschaften das Kapital in verschiedener Weise anlegen und dabei – je nach Anlageart – auch nachhaltige Ziele verfolgen oder zumindest nachteilige Auswirkungen auf Nachhaltigkeitsfaktoren vermeiden können.
Besteht ein Interesse der Kund*innen an Nachhaltigkeit, sind die Nachhaltigkeitspräferenzen konkreter zu erfragen. Kund*innen können sich für:
- Ökologisch nachhaltige (Versicherungs-) Anlagen im Sinne der Taxonomieverordnung wünschen, was derzeit vorwiegend mit Zielen zur Vermeidung von Treibhausgasen verbunden ist,
- Allgemein nachhaltige (Versicherungs-)Anlagen im Sinne der Transparenzverordnung, wofür sich auch die Begriffe „Artikel 8-Produkte“ als „leicht-grüne Anlagen“ und „Artikel 9-Produkte“ als „tief-grüne Anlagen“ etabliert hat. Es geht dabei eigentlich nur darum, wie aktiv die Unternehmen und Projekte, in die investiert wird, auf Umwelt- (E) und soziale Ziele (S) unter Einhaltung von Regen der guten Unternehmensführung (G) hinarbeiten.
- Vermeidung von bestimmten nachteiligen Auswirkungen auf Nachhaltigkeitsfaktoren („PAIs“, Beispiel Ausschluss von Kernenergie, Kohleenergie, geächtete Kriegswaffen, Verletzungen von Menschenrechten in der Lieferkette durch Lieferanten)
entscheiden, entweder einzeln oder in Kombination. Zusätzlich sollen Kund*innen gefragt werden, ob es Mindestanteile in ihren Anlagen an den o.g. nachhaltigen Anteilen geben soll. Diese Mindestanteile sind zwar aktuell noch schwer feststellbar oder wenn doch, dann sehr niedrig. Dafür fehlt es zum Teil an Rechtssicherheit und an Daten. Aber das wird sich in der nahen Zukunft ändern.
Wenn aus den o.g. Gründen keine sinnvollen Angebote zu den von den Kund*innen gewünschten Nachhaltigkeitskriterien und Mindestanteilen gemacht werden können, ist es zulässig, dass Vermittler*innen umgekehrt den Kund*innen zeigen, was sie ihnen heute schon an nachhaltigen Produkten anbieten können. Ändern Kund*innen daraufhin ihre Nachhaltigkeitspräferenzen, sollte das unbedingt ebenso sorgfältig dokumentiert werden wie alle anderen vorher gemachten Angaben von Kundenseite.
Nach Abschluss sollte jedoch der Verkaufsprozess keineswegs zu Ende sein. Vielmehr beginnt die Phase der Betreuung. Bei (Versicherungs-) Anlagen ist es von besonderer Bedeutung, laufend zu überprüfen, ob die „richtigen“ Fonds oder sonstige Anlagen hinterlegt sind, oder ob ein Wechsel angeraten ist. Daraus lässt sich ein regelmäßiger Betreuungsprozess ableiten, bei dem unter anderem immer wieder erfragt wird, ob sich Nachhaltigkeitspräferenzen geändert haben. Gleichzeitig besteht die Chance, neuere Informationen und Angebote bei den Kund*innen zu platzieren. Abgesehen davon wird die Kundenzufriedenheit steigen und die Stornoquote sinken. Sinnvoll ist es, mit den Kund*innen den Bereuungsrhythmus zu vereinbaren, und wie die Betreuung erfolgen soll. Unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten kann sie bei größeren Verträgen persönlich, sonst aber auch durch einen digitalen Kontakt erfolgen.
Nachhaltigkeit ist nicht nur ein Lebensversicherungs-Thema
Auch wenn die rechtlichen Vorgaben nur die Versicherungsanlageprodukte betreffen, durchzieht der Nachhaltigkeitsgedanke immer mehr die gesamte Versicherungsbranche. Die bis dato teuerste Naturkatastrophe in Deutschland war die Sturzflut Bernd 2021 mit über acht Milliarden Euro versichertem Schaden. Dabei hätte das Naturereignis durchaus noch schwerer ausfallen können. Zudem war nur ungefähr jedes zweite versicherbare Objekt auch gegen Elementarschäden versichert. Allen Voraussagen zufolge werden solche Naturereignisse durch den Klimawandel häufiger und intensiver werden.
Industrie und Handel müssen sich immer mehr auf kritische Fragen zu ihren Lieferketten, zum Umgang mit Umweltressourcen oder mit Menschenrechten auseinandersetzen. Ganze Industriebranchen geraten mindestens in Reputationsrisiken, wenn sie sich nicht einer nachhaltigen Transformation stellen.
Deshalb werden die Zeichnungsrichtlinien in der Schaden-/Unfallversicherung restriktiver ausfallen, die ersten Beispiele dafür gibt es längst. Versicherer werden zusätzliche Informationen erheben, um festzustellen, wie nachhaltig oder umgekehrt wie schädlich für die Nachhaltigkeit ihre versicherten Risiken sein können.
Entsprechend ist es sinnvoll, Nachhaltigkeit in allen Versicherungssparten zu thematisieren und – soweit bereits verfügbar – nachhaltige Versicherungsprodukte in die engere Auswahl zu nehmen. Ein kritischer Blick auf die Definition von Nachhaltigkeit ist allerdings notwendig. Die Branche befindet sich in einem Lern- und Suchprozess, bei dem sich nicht jede Marketingidee am Ende als nachhaltig herausstellen wird, sondern unter Greenwashing-Verdacht geraten kann.
Ein kritischer Blick auf die Definition von Nachhaltigkeit ist allerdings notwendig. Die Branche befindet sich in einem Lern- und Suchprozess.
Nachhaltigkeit ist ein Zukunftsthema
Die Marktforschung zeigt, dass in der Bevölkerung der Nachhaltigkeitsgedanke auf große Zustimmung stößt. Etwas schwieriger ist es naturgemäß bei der Frage, ob man notfalls zugunsten der Nachhaltigkeit bereit ist Verzicht zu üben. Aber erstens gibt es selbst diese Bereitschaft bei vielen Kund*innen, und zweitens ist ein Verzicht oft gar nicht nötig. So gibt es beispielsweise keinen Nachweis für die oft geäußerte Vermutung, dass Nachhaltigkeit bei (Versicherungs-) Anlagen Rendite kostet.
Es wird sogar umgekehrt ein Schuh daraus: Dezidiert nicht nachhaltige Branchen und Unternehmen werden es bald schwer haben, sich am Markt zu halten. Wer weiter in solche Unternehmen investiert oder diese versichert, wird damit keinen nachhaltigen Erfolg haben.
Deshalb sollten Versicherungsvermittler*innen das Thema Nachhaltigkeit in ihre Beratung und in die Produktauswahl aufnehmen, sich laufend weiterbilden und systematisch ihre Erfahrungen mit dem Vertrieb nachhaltiger Produkte auswerten. So werden sie rasch Knowhow aufbauen und ihren Kund*innen Lotsen durch die nicht ganz einfache Vielfalt an Lösungen sein, die der Markt anbietet. Eigentlich genau das, was Versicherungsvermittler*innen immer schon ausgezeichnet hat – und warum Versicherungen immer noch über Vermittler*innen mit Beratung und kaum direkt gekauft werden.
Wie steht es mit der eigenen Nachhaltigkeit?
Ein zentraler Erfolgsfaktor im Vertrieb ist die Glaubwürdigkeit. Wer nicht an das Risiko der Altersarmut glaubt, wird Kund*innen nicht von Altersvorsorgelösungen überzeugen. Wer nicht an Sachrisiken glaubt, wird wenig Erfolg mit Sachversicherungen haben. Wer nicht von der Notwendigkeit der Nachhaltigkeit überzeugt ist, wird sich mit diesem Thema schwertun.
Es gibt verschiedene Ansatzpunkte, um die eigene Glaubwürdigkeit in Sachen Nachhaltigkeit zu erhöhen und dabei oft sogar wirtschaftlich überaus sinnvolle Entscheidungen zu treffen. Die aktuelle Energiekrise ist ein überzeugendes Beispiel dafür, wie wirtschaftlich vernünftig eine kritische Überprüfung des eigenen Energieverbrauchs und der Bezugsquellen von Energie ist. Der Verzicht auf unnötige Fahrten oder die Umstellung auf erneuerbare Energien im Vermittlerbüro sind beispielhafte Maßnahmen, die sowohl auf eine eigene Nachhaltigkeitsstrategie einzahlen als auch sich wirtschaftlich lohnen.
Eine Hilfestellung für die Formulierung einer eigenen Nachhaltigkeitsstrategie und entsprechende Maßnahmen findet sich in der Checkliste „Nachhaltigkeit im Versicherungsvermittlerbetrieb“, die der Bundesverband Deutscher Versicherungskaufleute e.V. (BVK) herausgegeben hat.
Über Prof. Dr. Matthias Beenken
Prof. Dr. Matthias Beenken ist als Professor am Fachbereich Wirtschaft der FH Dortmund tätig. Sein Lehrgebiet ist die Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Versicherungswirtschaft. Er war sieben Jahre Chefredakteur der deutschen Ausgabe des VersicherungsJournals und hat mehrere Bücher geschrieben.
Mehr Informationen findest Du auf der Website von Prof. Dr. Matthias Beenken.